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Liebe Gemeinde,
kennen Sie noch das Kinderlied „Zehn kleine Negerlein“. Ein im Grunde genommen schreckliches Lied, das wohl im 19. Jahrhundert entstand und ursprünglich von „Indianern“ handelte  und erst später auf die farbige Bevölkerung Amerikas übertragen wurde, bevor dann im Laufe der Jahre  etliche andere Gruppen in dieses Lied einzogen: Gartenzwerge, Zappelmänner, Jägermeister, Biere ... Die Variationen scheinen kein Ende zu haben. Wie dem auch sei. Das gute an diesem Lied – und das war wohl sein eigentlicher Sinn – war die Möglichkeit, singend das Rückwärtszählen zu lernen. Dazu sind ja Kinderlieder, ach überhaupt Lieder da, dass man singend lernt.  Nun kommt zwar in dem Lied Martin Luthers, das wir gerade begonnen haben zu singen, auch die Zahl 10 drin vor, und dennoch ist es trotz seiner leichten Melodie alles andere als ein Kinderlied. Und doch hat es das gleiche Ziel: Mit ihm soll man singend lernen.

Es ist eines von mehreren Katechismusliedern, die Martin Luther 1524 gedichtet hat. Überhaupt hat Martin Luther passend zu jedem der fünf Teile seines Katechismus mindestens ein Lied gedichtet: Zu den 10 Geboten, dem Glaubensbekenntnis, dem Vater unser,  der Taufe und dem Sakrament des Altars,  bei dem man Abendmahl und Beichte als Einheit verstehen sollte. Diese Katechismuslieder, man könnte auch sagen „Lehrlieder“ Luthers, hat man schon 1529 zu einem Buch zusammengestellt. Nun wirken auf uns heute die Stichworte „Katechismus“ bzw. „Lehre“ nicht sonderlich attraktiv.  Aber versetzen wir uns für einen Moment in die Lage der damaligen Menschen, insbesondere in die Lage der „Einfältigen“ und „Bildungsfernen“ jener Zeit. Wer arm geboren wurde, blieb in der Regel arm, blieb in der Gesellschaftsschicht, in der er geboren wurde. Kinder aus dieser Schicht besuchten keine Schule, lernten oftmals nicht schreiben und lesen, und waren somit in der Regel den damaligen Geistlichen, von denen viele auch nicht so recht wussten, was in der Bibel steht, regelrecht ausgeliefert. Da musste man alles glauben, was einem die Männer im weißen Gewand erzählten, auch so manchen Angst schürenden Aberglauben. Und dann trat Martin Luther auf und lehrte die Menschen eine neue Art zu glauben, eine befreiende, eine die Gott in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ, nämlich in einem gütigen und barmherzigen. Und damit dieser neue Glaube nicht mit der nächsten Anfechtung  weggeweht wurde, musste er auf einem festen Fundament stehen, musste dieser Glaube nicht nur gelernt,  sondern auch verstanden und verinnerlicht werden. Für Martin Luther bestand das Lernen darum nicht einfach nur im Aufsagen von gelernten Texten. In einem Vorwort zu einer Ausgabe von seinen Katechismusliedern von 1543 schrieb Luther:
"Denn wir wollen ja gerne, dass die christliche Lehre auf allerlei Weise  Mit Predigen, Lesen, Singen usw. fleißig getrieben werde.“
Mit diesen Worten macht Luther deutlich, dass Lernen für ihn etwas Ganzheitliches ist. Es geht nicht nur darum, dass die Worte in den Kopf dringen, sondern dass der neue Glaube auch das Herz erfasst, wobei nach Luthers Meinung die Musik die beste Methode bildet. Schauen wir uns dieses Lied Martin Luthers ein wenig genauer an, wird deutlich dass die erste und die 11. Und 12. Strophe eine Art Rahmen bilden. Die erste Strophe führt in den biblischen, man könnte auch sagen geschichtlichen Zusammenhang der Gebote ein. Die Gebote sind heilig, weil sie von Gott durch Mose dem Volk am Berg Sinai kundgetan wurden. Die letzten beiden Strophen bilden die andere Seite des Rahmens und geben präzise Auskunft darüber, wie Luther die 10 Gebote versteht. Darum lassen Sie uns diese beiden Strophen einmal singen:  

Singen von Strophe 11+12

Die Gebote haben nach Luther eine zweifache Bedeutung. Zum einen bilden sie eine Art Spiegel, den wir uns vorhalten und in dem wir unsere Sünde, unsere Schuld vor Gott erkennen. Darum stehen sie in Luther Katechismus auch ganz am Anfang, als erstes Hauptstück. Keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis. Oder anders gesagt: Ich kann Gott in seiner großen Liebe nur erkennen, wenn ich mir zuvor auch meiner großen Schuld bewusst werde, die mich von ihm und von anderen Menschen trennt.  

Aber die 10 Gebote sind nicht nur ein Spiegel, sondern sie helfen auch dabei, wie man vor Gott leben soll. Nach Luther sind die 10 Gebote auch eine Art Lebensanleitung, die uns helfen, den richtigen Weg im Leben zu finden, also eine Art Wegweisung, wie ja auch das Judentum die Gebote versteht, wo sie eben nicht Gebot heißen, sondern Weisung („Halacha“). Vielleicht ist dies ja auch der Grund, warum Martin Luther für dieses Lied eine alte Melodie aus dem 12. Jahrhundert gewählt hat, eine sogenannte „Leise“, bei der jede Strophe mit einem Kyrieleis endet. Diese Weisen sang man auf Wallfahrten und Pilgerreisen.  Vielleicht wollte Martin Luther gerade dadurch deutlich machen, dass unser ganzes Leben, auch unser Alltag eine Art Wallfahrt, eine Pilgerreise ist. Unsere Seligkeit verdienen wir nicht mit frommen Sonderleistungen, sondern Gottes Willen tun wir dort,  wo wir im Alltag seinen Willen an dem Ort umsetzen, an den er uns gestellt hat. Wobei Luther in der letzten Strophe klar heraus stellt, dass der Mensch aus eigenen Kräften nicht nach Gottes Willen zu leben vermag. Jesus Christus ist der Mittler, der zwischen Gott und Mensch steht. Wer sich vor Gott auf sein frommes Tun berufen will, vergisst, dass nur das Erbarmen Christi uns vor Gott gerecht werden lässt.

Aber schauen wir uns nun die Darlegung der 10 Gebote ein wenig genauer an. Lassen Sie uns hierzu die Strophen 2- 5 singen.

Singen der Strophen 2-5

Jede Strophe besteht aus einem kleinen Vierzeiler, bei dem die ersten beiden Zeilen das biblische Gebot in großer Nähe zum Bibeltext wiedergeben. Die beiden nächsten Zeilen hingegen bilden die positive Interpretation, welche Ausrichtung das Gebot denn eigentlich hat bzw. wie  Gottes Willen konkret umzusetzen ist. Diese Form gebraucht Luther auch in seinem 5 Jahre später verfassten Kleinen Katechismus. (Bsp. Strophe 4 (siebten Tag ) und S. 1313. Hier macht Luther deutlich, dass es nicht nur darum geht, an diesem Tag alle Arbeit ruhen zu lassen, sondern darum, dass wir Gott ins uns haben, dass wir sein Wort hören und in uns aufleben lassen. Diese Doppelstruktur der Gebote führt Luther auch in seinem Lied durch alle Strophen hindurch. Er kommt dabei zu konkreten Bestimmungen, die beim Tötungsverbot in der 6. Strophe, Aspekte von Jesu Bergpredigt aufnehmen, wenn es heißt, dass man auch dem Feind das Gute tun soll. Und ebenso konkret und tiefgehend wird Luther bei der Auslegung des Gebotes „Du sollst nicht stehlen“ in der 8. Strophe, wenn er dieses Gebot mit der alttestamentlichen Aufforderung verbindet, dass man nicht Wuchern, also keinen Zinsen nehmen soll.

Auch wenn die einst einfache Melodie und die schlichten Sätze und Reime uns heute fremd geworden sind und sicherlich nicht mehr gut dazu dienen, uns und unseren Kindern die 10 Gebote nahe zu bringen, was wir von Luther auch 500 Jahre später noch lernen können und sollten ist, sich immer wieder neu die Frage zu stellen, auf welchen Wegen wir unseren Glauben ganzheitlich an die, die nach uns kommen weitergeben können. Denn dies muss an dieser Stelle auch gesagt werden:
Luther gilt zwar als der Erfinder des Gemeindegesangs – wobei dies historisch nicht ganz korrekt ist –, aber noch viel mehr als die gemeinsamen Lieder in die Kirchen, hat er die Lieder in die Häuser der Menschen gebracht. Eltern sangen zusammen mit ihren Kindern christliche Lieder, die ihnen singen und spielend den Glauben vermittelten. Und was tun wir heute, um unseren Kindern unseren Glauben zu vermitteln? Wir müssen nicht die gleichen Wege einschlagen, die Luther eingeschlagen hat, aber wir müssen nach wie vor seine Fragen stellen, damit unsere Kinder Gottes Wort  als Antwort auf die Fragen ihres Lebens finden.
Amen